4. Akt: Die mündliche Verhandlung

Recht geht vor Macht.

Genau! Lass uns das doch mal anschauen gehen.

Wie meinst Du das?

Na hier ist doch das Gebäude des Kammergerichtes gleich um die Ecke [siehe Bild]

Nanu? Ist das nicht in Wetzlar?

Nein, mein Guter. Du meinst wohl das Reichskammergericht. Das gibt’s doch seit 1806 gar nicht mehr! Das Kammergericht ist das Berliner Oberlandesgericht, zuständig für Berufungen und Beschwerden in Zivil- und Familiensachen. Und in Staatsschutz-Strafsachen auch in 1. Instanz, Terrorismus, Spionage, solche Sachen.

Ach so. Na, imposant sieht’s jedenfalls aus. Und da kann man einfach rein?

Na klar! Gerichtsverhandlungen sind grundsätzlich öffentlich. – Ich schau mal die Aushänge durch ... Müller gegen Meier ... Bruch-Niederbrücke gegen Bruch ... hm ... Hier: Kleinmann gegen Vereinigte Ausländische Unterstützungskasse der Ärzte und Pastoren.

Was ist das denn für ein Verein?

Ein großer Lebensversicherer, kennst Du nicht die Inserate? Die sollen doch so tolle Renditen haben.

Klein gegen Groß, das wär doch was für uns?

OK, rein!

„... Der Kläger wendet sich gegen eine Kürzung der Auszahlung, die die Beklagte auf die von ihr errechnete Versicherungsleistung angewendet hat, als der Vertrag beendet wurde ...“

Wie, soll das heißen, die haben ihm einfach weniger ausgezahlt?

Scheint so, lass mal weiter hören ...

„... Er meint, eine solche Kürzung sei nicht wirksam vereinbart; soweit der Vertrag Klauseln enthalte, die als Rechtfertigung einer solchen Kürzung hergenommen werden könnten, so seien diese unwirksam ...“

Wie? Also die sagen, der Vertrag ist zwar 50.000 wert, aber Kleinmann kriegt trotzdem nur 40.000 bezahlt?

Scheint so ...

Allerhand ...

„... Das Landgericht hat der Klage auf Nachzahlung des Kürzungsbetrages vollen Umfanges stattgegeben ...“

Ha! Das Recht triumphiert!

Wart mal ab ...

„... Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie hält die Klausel für wirksam; allenfalls müsste sie im Wege ergänzender Vertragsauslegung dem im Falle ihrer Unwirksamkeit lückenhaften Vertrag wieder hinzugedacht werden ...“

Wie? Die wollen, dass die Klausel auch dann gilt, wenn sie nicht gilt? Lustig ...

Na ja, irgendwas muss sich der Anwalt der Versicherung doch einfallen lassen ...

„... Der Senat hält die Berufung für unbegründet. Das Landgericht hat richtig entschieden ...“

Ha! Das Recht triumphiert! Sag ich doch!

Wart mal ab ...

„... die Revision würde er nicht zulassen ...“

Ha! Kleinmann hat letztinstanzlich Recht bekommen! Ich sag Dir doch, das Recht triumphiert – wie sich das gehört!

„... und schlägt den Parteien daher vor, sich bei 50 % der Klagesumme zu vergleichen ...“

Wie war das gerade?

Ich glaube, sie hat gesagt, Kleinmann soll die Hälfte bekommen ...

Aber wieso das denn? Sie hat doch gerade gesagt, von Rechts wegen bekommt er alles? Ich glaub, ich hab einen Hörfehler ...

Max. Der Richter soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinwirken. So steht’s geschrieben in § 278 Absatz 1 der Zivilprozessordnung. In einem andern Paragraphen, aber schon im Reichsgesetzblatt vom 30. Januar 1877.

Ja aber ...

Kein Aber!

Aber sollte denn ein Vergleichsvorschlag nicht irgendwie die Prozessrisiken abbilden?

Wo steht das denn?

Jetzt ist aber gut. Komm mal mit in die Bibliothek ... 5. Etage ... hier haben wir ihn ja: Baumbach, weiland Senatspräsident beim Kammergericht ... Zivilprozessordnung ... OK, 77. Auflage 2019, der ist nun schon ein Weilchen tot, aber er schrieb: „Einigung mit sanfter Gewalt ist die nicht selten fragwürdige Methode ... um die störrischen Parteien zusammenzureden (Heinrich von Kleists Dorfrichter Adam lässt grüßen) ... Alle noch so beschwörenden Gesetzesaufforderungen finden ihre Grenze dort, wo man nur noch um irgendeine äußere Einigung feilscht. Sie bringt in Wahrheit fast das Gegenteil einer gütlichen Beilegung des Streites mit sich, nämlich eine tiefe Unzufriedenheit ... Gerechtigkeitserkenntnis wird durch immer neu erzwungene Schlichtungsversuche keineswegs gefördert ...“ [§ 278 Rn. 7]

Schnickschnack. Der Richter ist unabhängig, das heißt er soll möglichst schnell möglichst viele seiner Akten erledigen ...

Und wo steht bitte das?

In § 1 des Ungeschriebenen Gesetzes, was hast Du denn bitte gedacht?

Also, eh wir uns hier weiter herumstreiten: was ist denn jetzt beim Versicherungssenat rausgekommen?

Mein Bursche hat es mir berichtet: Die Richter haben Kleinmann die Hölle heiß gemacht, was der Bundesgerichtshof alles Fürchterliches mit ihm anstellen wird, wenn er sich nicht sofort vergleicht. Kleinmanns Anwalt hat dann gekämpft wie ein Löwe und die Sache noch von der Hälfte auf zwei Drittel hochtreiben können. Er sagt aber auch, die Versicherungsanwälte hätten sich fast totgelacht, als sie aus dem Saal sind ...

Tja. Wenn der Richter Dir sagt, Du zahlst von Rechts wegen alles, und dann sind’s doch nur zwei Drittel, ist das ja ein ganz guter Schnitt ...

Max. Das Recht ist eine begrenzte Ressource. Auf der Versicherung herumzureiten wäre reine Zeit- also Ressourcenvergeudung gewesen. Also mussten die Richter auf Kleinmann herumhacken. Das ist viel effektiver, verstehst Du? Und auf Effizienz kommt es hier an!

Aber ...

Kein Aber!!

Aber Recht geht doch vor Macht ...

Schnauze! *PAFF*

AUA!!

 

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