Vorwort

In der zugespitzten Form „Recht geht vor Macht“ wird die eingangs zitierte Sentenz dem Politiker, Minister und, freilich, Rittergutsbesitzer Maximilian Heinrich Karl Graf von Schwerin-Putzar zugeschrieben; er soll sie am 27. Januar 1863 im Abgeordnetenhaus des Preußischen Landtages in einer scharfen Auseinandersetzung Otto v. Bismarck entgegengeschleudert haben.

(Direkt hinter diesem befindet sich meine Kanzlei - heute ist es das Abgeordnetenhaus von Berlin.)

Der Gedanke freilich ist prägend, ja geradezu selbstverständlich für den Rechtsstaat.

Jedoch, die Mühsal der Ebene!

Hören wir Graf v. Schwerin im Dialog mit einem Gesprächspartner aus dem wiedervereinigten Deutschland im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends nach Christus.

1. Akt: Die Gesetzgebung

Recht geht vor Macht.

Nun ja.

Aber wie wird Recht denn gesetzt?

Na vom Volk.

Ach so?

Na klar! Das Volk wählt in freier Wahl Abgeordnete, die üben ein freies Mandat aus, und die Mehrheit entscheidet.

Wie geht das denn konkret?

Na ja, meist gibt es da einen Entwurf, und ...

Wer macht denn den?

Ich glaube, irgendeiner im Ministerium.

Ach ein Beamter! Das ist gut. Der arbeitet bestimmt für das gemeine Wohl.

Na ja, um ehrlich zu sein: ich hab mal gehört, dass große Anwaltskanzleien jetzt Mitarbeiter direkt in den Ministerien haben.

Das ist doch nicht schlecht. Deren Mandant ist dann ja das ganze Volk.

Schon, das sagen die auch ... aber wenn diese Leute sonst immer nur für Großunternehmen arbeiten ... meinst Du, die haben wirklich das Mehrheitswohl im Blick?

Hm.

Wusstest Du übrigens, dass auch allerhand Verbände in die Gesetzgebung eingebunden werden? Da gibt es Vorschläge, Veränderungswünsche, Sachverständigenanhörungen, ...

Ja, das ist doch bestimmt sinnvoll. Da kommt das ganze Fachwissen der Praxis zum Tragen.

Sicher ... meinst Du denn, da sind Unternehmen und Betroffene gleich stark repräsentiert?

Wäre eigentlich komisch. Die Großunternehmen können sich bestimmt mehr und teurere Anwälte leisten. Und Sachverständige arbeiten ja auch nicht aus Spaß, sondern verdienen Geld mit ihrem Wissen. Sicher arbeiten die auch lieber für den, der mehr zahlt.

Da hast Du natürlich recht.

Aber am Ende entscheiden doch die Abgeordneten?

Klar. Die haben ja auch bloß alle paar Stunden ein paar tausend Seiten Gesetzesentwürfe durchzuarbeiten, zu verstehen und in den Gesamtkontext der Rechtsordnung einzupassen und sämtliche Folgen abzuschätzen ... das schaffen die locker.

Hm. Aber wenigstens vom Namen her wissen sie doch in der Regel, worum es geht.

Klar! Wusstest Du, dass die Trennung von Zivilprozessen – dass, wenn mehrere Leute auf einmal geklagt haben, doch wieder jeder für sich allein prozessieren und das Gericht bezahlen muss – vom „Rechtsbehelfsbelehrungs-Einführungs-Gesetz“ stark erleichtert  wurde?

Nein, da wär ich jetzt nicht drauf gekommen.

Oder dass das „Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland“ die Verjährungsregelungen verändert hat? Drei statt 30 Jahre hast Du seit 1998 Zeit, um einen Schadenersatzanspruch geltend zu machen, wenn Dich einer beim Wertpapierhandel betuppt hat.

Hätte man das nicht „Schadenersatzverhinderungsgesetz“ nennen müssen?

Warum denn? Das „Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz“ heißt doch auch nicht „Marktbereinigungsgesetz“, obwohl damit lediglich die großen Akteure der Finanzbranche die kleinen aus dem Spielfeld schubsen.

Ist ja fies!

Tja ... ist aber immer so, dass neue Gesetze nur einen Teil der Veränderung im Titel tragen. Den schönen Teil, versteht sich - nennt man "Gesetzes-Marketing". Kein Politiker wäre so wahnsinnig, das "Opferrechte-Stärkungsgesetz" als "Beschuldigtenrechte-Abbaugesetz" oder "Unschuldsvermutungs-Herabsetzungs-Gesetz" zu verkaufen. Und ich sag Dir, demnächst kommt das "Strafrechtspflege-Funktionsverbesserungs-Gesetz" ...

Hört sich doch gut an.

Eben!

Und?

Na es wird natürlich nichts weiter als ein Beweisantrags-Verhinderungs-Gesetz.

Das hört sich ja nicht so toll an.

Eben!

OK, ich glaube jetzt hab ich verstanden was Du mir sagen willst. Ich werde mal die Augen aufhalten, ob ich weitere Beispiele für solche Nur-der-schöne-Teil-Etiketten finde ...

Tu das! Aber denk dran, wenn Du Gesetze über "Unkrautvernichtungsmittel" suchst, musst Du unter "P" gucken!

Warum dieses?

Pflanzenschutz ...

Ah ...

2. Akt: Der Ausschuss

Sag mal, wo wir gerade über die Gesetzgebung nachdenken: Werden eigentlich auch Anwälte in die Ausgestaltung des Rechtes einbezogen? Zu meinen Zeiten wurde oft beklagt, dass die im Ministerium gar nicht wissen, wie das bei Gericht so wirklich abläuft.

Aber Max! Wir sind in Deutschland! Da gibt’s für alles einen Ausschuss. Also, na klar, auch einen für Zivilprozess- und Gerichtsverfassungsrecht. Hat die Bundesrechtsanwaltskammer extra eingerichtet, damit in Gesetzgebungsverfahren die Stimme der Praxis Gehör findet.

Klingt gut. Wie viele sind da denn drin?

Sieben Leute. Prima Größe, klassisch für eine arbeitsfähige Gruppe. Gut, oder?

Das Gespräch fand im November 2016 statt.

Na mal sehen. Was sitzen denn da so für welche?

Also, die einzige Frau arbeitet bei „einer der großen deutschen Wirtschaftskanzleien“, die Teil eines Netzwerkes mit 8.500 Berufsträgern ist. War früher eine Abteilung von PwC [PriceWaterhouseCoopers, eine der vier weltgrößten Wirtschaftsprüfer-, Steuer- und Unternehmensberater-Firmen, 35 Mrd. US-Dollar Jahresumsatz], musste aus regulatorischen Gründen formal verselbständigt werden.

OK, die Unternehmensseite. Klar, die muss gehört werden. Wer noch?

Einer ist bei King & Spalding LLP, Atlanta, 800 Anwälte. Kunden sind z. B. Monsanto, Coca Cola, Chevron, General Motors...

Das sagt mir alles nichts. Klingt irgendwie nicht so deutsch?

Nö. Muss ja auch nicht, oder? Die Wirtschaft ist heutzutage international.

Ja ... da müssen die Anwälte es wohl auch sein. Weiter?

Die Kanzlei vom nächsten Ausschussmitglied befasst sich mit „Corporate / M & A – Technologie, Medien und IP – Prozessführung, Schiedsverfahren & ADR – Commercial“.

Ist das jetzt Deutsch, oder welche Sprache?

Na, einige Wörter schon. „Commercial“ bedeutet im übrigen „Beratung im operativen Geschäftsbetrieb von Unternehmen“, sagen sie. Alles deutsche Wörter, hm?

Ja ... aber schon wieder Unternehmen, oder?

Wohl wahr. Der nächste sitzt in Frankfurt, ist einer von 40 Kollegen und macht Immobilienrecht und Unternehmenstransaktionen.

Die Brückenstadt zwischen Ost und West, Frankfurt an der Oder? Freude!

Willst du mich veralbern? Frankfurt am Main, da wo das Geld ist, Mann. Wahrscheinlich gibt’s in ganz Frankfurt (Oder) keinen, der die Honorare dieser Leute bezahlen könnte ...

Reg dich ab, woher soll ich das wissen? Zu meinen Zeiten wurde Frankfurt (Main) überhaupt erstmals von Preußen annektiert, während über Frankfurt (Oder) schon damals die Bahnlinie Berlin - Poznań führte. Aber das sind ja jetzt schon 4 von 7 Leuten, die Unternehmen vertreten.

Na, da gibt’s noch einen aus Wallenhorst, da gibt’s keine Großkanzleien. Der ist zusätzlich Notar. Der andere Einzelkämpfer ist zum 1. Januar 2016 aus dem Ausschuss ausgeschieden. Nein, halt: es gibt noch einen aus einer Zweier-Sozietät. Der ist allerdings zum Bundesgerichtshof zugelassen.

Ist das typisch?

Nö, das sind 45 von 164.000 Rechtsanwälten deutschlandweit.

Sehr repräsentativ ...

Du findest aber auch immer etwas zu mäkeln!

Wohl wahr. Vor allem dass das jetzt nur 6 waren und nicht 7. Wenigstens der 7. vertritt aber gewiss die kleinen Leute, oder?

Na ja ... Kaye Scholer LLP ... er ist übrigens der Vorsitzende von dem Ausschuss ... er leitet dort das „Complex Commercial Litigation Department“ ... vertreten hauptsächlich Life Science und Financial Services Unternehmen, sagen sie.

Gibt’s in Deutschland eigentlich auch deutschsprachige Kanzleien, sag mal?

Na massenhaft. Warum fragst du?

Ach nur so ...

Übrigens: Kaye Scholer kämpft seit jeher für die alternative Streitbeilegung, weil die Kunden schnellere und flexiblere Lösungswege bevorzugen  [K. S. always have been advocates for Alternative Dispute Resolution (ADR) ... our clients seek swifter, more flexible ways of resolving disputes].

Wie, flexibler?

Na, flexibler als das normale Recht es hergibt. Diese ganzen lästigen Verfahrensregeln! Ich sage dir! Waffengleichheit! Rechtliches Gehör! Mündlichkeit! Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme! Rechtsmittel! Instanzenzüge! Dieser ganze Quatsch! Hält alles bloß auf!

Ist das nicht in der Zivilprozessordnung geregelt, ZPO genannt?

Ja, freilich. Warum?

Erzählst Du mir nicht gerade über den ZPO-Ausschuss?

Ja, freilich. Warum?

Der Vorsitzende von dem ZPO-Ausschuss ist einer, dessen Kanzlei versucht, möglichst Alternativen zur ZPO zu finden, weil deren Kunden das besser gefällt?

Ja, sagte ich. Warum?

Ich find’s ja irgendwie komisch, dass Leute an der ZPO mitarbeiten, die möglichst ohne sie auskommen wollen.

Das ist doch ganz normal. Da sind sogar noch ein paar mehr in dem Ausschuss, zu deren Hauptgebieten die ADR gehört.   (siehe auch Schlichten – teurer als Richten!)

Hm. Also die, die aus dem durch die ZPO gestalteten Verfahren rauswollen, gestalten die ZPO ...

Na Max, wer soll es denn sonst machen? Der Anwalt, der Lieschen Müller und Uwe Unbedarft vertritt, hat doch weder die Zeit noch das Geld, in so einem Ausschuss herumzusitzen. Nur Großunternehmen können es sich leisten, Leute für solche Ehrenämter abzustellen.

Aber ...

Was??

Aber das Recht soll doch für alle gleich sein.

Na ist es doch auch.

Aber ...

Was??

Aber wenn einige da viel mehr Einfluss drauf nehmen als andere, dann ...

Was??

Ach, ich weiß auch nicht. Irgendwas kommt mir da komisch vor.

Du immer mit deinen Gefühligkeiten, Max. Komm, wir gehen einen trinken. Ich zahle – ich habe jetzt nämlich einen Job bei Freshfields. Nie wieder vor so einem lumpigen Amtsgericht herumhüpfen! Die werden sowieso allmählich geschlossen, in ärmeren Bundesländern gibt es kaum noch welche.

Aber ...

3. Akt: Die Fachliteratur

Sag mal, wie finden die Richter eigentlich raus, was das Gesetz über den von ihnen zu entscheidenden Fall sagt?

Na ich nehme an, sie fragen Alexa* oder Siri*.

Aber ...

Das war ein Sche-herz! Die meisten Justizverwaltungen wissen noch nicht einmal, wie man das Wort „Computer“ buchstabiert, und das ist letztlich auch ganz gut so. Nein, die lesen natürlich. Die Fachliteratur, ganz Old School – Buchdruck, Gutenberg und so. Farbe auf Papier.

Sehr gut! Das Recht und die Rechtsfindung können ja nicht jede Technikmode mitmachen – ein wenig Rückständigkeit gehört geradezu zum System. Aber wer produziert denn die Literatur?

Na der Drucker.

Du ewiger Scherzbold! Ich meine natürlich nicht das Buch, sondern den Inhalt. Die Texte.

Na, Leute die sich auf einem Gebiet gut auskennen. Bankrechtler schreiben übers Bankrecht, Mietrechtler übers Mietrecht, Versicherungsrechtler übers Versicherungsrecht ... Logisch, oder?

Hm. In was für Formaten schreiben die denn so?

Na, da gibt’s Kommentare, Rechtsprechungsübersichten, Urteilsbesprechungen ... Wenn eine Bank oder eine Versicherung verurteilt wird, dann jaulen wie auf Knopfdruck die Fachleute in den einschlägigen Fachblättern, wie abwegig, praxisfern, wirtschaftsfeindlich, verfassungs- und europarechtswidrig diese Entscheidung doch wieder ist. Je höher das Gericht, desto mehr.

Na ja, aber davon lässt sich doch sicher kein Richter beeindrucken. Man weiß doch, wer da schreibt!

Ja? Woher denn? Die Rechtsprechungsübersicht zum Versicherungsrecht wird z. B. halbjährlich von zwei Anwälten aus einer Großkanzlei verfasst, die ausschließlich Versicherer vertritt – also aus Prinzip und immer gegen Versicherungsnehmer, Versicherte, Geschädigte arbeitet. Glaubst Du etwa, das steht bei deren Autorennamen dahinter?

Müsste doch eigentlich.

Wieso? Irgend so ein Spinner aus Berlin fordert das zwar alle halbe Jahre wieder, aber mangels Rechtsgrundlage hört auf den natürlich keiner. Bei den ganzen Bankrechtsartikeln steht ja auch nicht drunter, dieser Beitrag wurde im Auftrag unserer Stamm-Mandantin der X-Bank verfasst ...

Nein, das wäre sicherlich ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit, wenn man das kundtun müsste, und in die Meinungsfreiheit gleich mit ... Diese Leute dürfen ja wohl auch eine Meinung haben!

Genau! Und wenn ein Justiziar einer Rechtschutzversicherung sich über Kostenthemen äußert, steht logischerweise auch nicht bei, dass er bei einer Versicherung arbeitet. (siehe auch Streitgenossen.pdf S. 111 (re. Sp. oben) unter IV. und Fußn. 1) Was sollte der Richter mit dieser Information denn auch anfangen? Das Recht ist schließlich so, wie es ist, egal wer das sagt.

Hm ... Aber die Kommentare, diese richtig dicken Bücher über das Recht – die sind doch bestimmt mit wissenschaftlichem Anspruch verfasst? Ausgewogen, unabhängig, von allen Seiten?

Sicherlich. Wir schauen mal nach ... Aha, da haben wir ja z. B. den Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz. Drei Bände, zusammen über 5.000 Seiten, mit Abstand das umfangreichste Werk ... also, der erste Herausgeber ist schon mal der, der auch immer die Rechtsprechungsübersicht zum Versicherungsrecht in der verbreitetsten deutschen Rechtszeitschrift verfasst, wie gesagt ...

Aber doch sicher nicht allein!

Wo denkst Du hin. 11 Leute schreiben insgesamt mit aus dieser Kanzlei, die nur Versicherer vertritt ... also Partner und Untergebene vom Herausgeber.

Na und sonst?

Der Chefsyndikus des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft ... die Vorstände und Vorstandsvorsitzenden von fünf großen Versicherern ... die Chefsyndizi von drei weiteren ... ein Versicherungsmakler ... drei Anwälte aus US-Kanzleien ... und höre und staune: vier Richter und fünfzehn Professoren!

Jetzt bin ich aber erleichtert. Die werden ja bestimmt für Ausgewogenheit sorgen.

Sicher. Die sind bestimmt dafür als Mitautoren ausgesucht worden, dass sie sich als besonders versicherungsnehmerfreundlich hervorgetan haben ... einen kenn ich übrigens näher, der hat ein über 50-seitiges Gutachten über die Europarechtswidrigkeit einer BGH-Entscheidung verfasst. Wurde in ein paar Hundert Verfahren vorgelegt ...

Von den Versicherungsnehmern, sicherlich?

Scherzkeks! Nein, von den Anwälten der Versicherung, o Wunder. Der Mann war übrigens auch noch Richter im Nebenamt. An einem Berufungsgericht und in einem Versicherungssenat ...

Nicht Dein Ernst.

Doch! Aber er hat den Posten netterweise aufgegeben, bevor er dieses Gutachten für das Versicherungsunternehmen zur Verwendung freigegeben hat. Und in den Verfahren, die gegen das Unternehmen geführt wurden, in dessen Auftrag er es verfasst hat, hat er nicht mitentschieden. Das spricht doch für Fairness und Objektivität, oder?

Absolut!

* Alexa ist eine eingetragene Marke der Alexa Internet, Inc.
  Siri ist eine eingetragene Marke der Apple Inc. in den USA und anderen Staaten

4. Akt: Die mündliche Verhandlung

Recht geht vor Macht.

Genau! Lass uns das doch mal anschauen gehen.

Wie meinst Du das?

Na hier ist doch das Gebäude des Kammergerichtes gleich um die Ecke [siehe Bild]

Nanu? Ist das nicht in Wetzlar?

Nein, mein Guter. Du meinst wohl das Reichskammergericht. Das gibt’s doch seit 1806 gar nicht mehr! Das Kammergericht ist das Berliner Oberlandesgericht, zuständig für Berufungen und Beschwerden in Zivil- und Familiensachen. Und in Staatsschutz-Strafsachen auch in 1. Instanz, Terrorismus, Spionage, solche Sachen.

Ach so. Na, imposant sieht’s jedenfalls aus. Und da kann man einfach rein?

Na klar! Gerichtsverhandlungen sind grundsätzlich öffentlich. – Ich schau mal die Aushänge durch ... Müller gegen Meier ... Bruch-Niederbrücke gegen Bruch ... hm ... Hier: Kleinmann gegen Vereinigte Ausländische Unterstützungskasse der Ärzte und Pastoren.

Was ist das denn für ein Verein?

Ein großer Lebensversicherer, kennst Du nicht die Inserate? Die sollen doch so tolle Renditen haben.

Klein gegen Groß, das wär doch was für uns?

OK, rein!

„... Der Kläger wendet sich gegen eine Kürzung der Auszahlung, die die Beklagte auf die von ihr errechnete Versicherungsleistung angewendet hat, als der Vertrag beendet wurde ...“

Wie, soll das heißen, die haben ihm einfach weniger ausgezahlt?

Scheint so, lass mal weiter hören ...

„... Er meint, eine solche Kürzung sei nicht wirksam vereinbart; soweit der Vertrag Klauseln enthalte, die als Rechtfertigung einer solchen Kürzung hergenommen werden könnten, so seien diese unwirksam ...“

Wie? Also die sagen, der Vertrag ist zwar 50.000 wert, aber Kleinmann kriegt trotzdem nur 40.000 bezahlt?

Scheint so ...

Allerhand ...

„... Das Landgericht hat der Klage auf Nachzahlung des Kürzungsbetrages vollen Umfanges stattgegeben ...“

Ha! Das Recht triumphiert!

Wart mal ab ...

„... Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie hält die Klausel für wirksam; allenfalls müsste sie im Wege ergänzender Vertragsauslegung dem im Falle ihrer Unwirksamkeit lückenhaften Vertrag wieder hinzugedacht werden ...“

Wie? Die wollen, dass die Klausel auch dann gilt, wenn sie nicht gilt? Lustig ...

Na ja, irgendwas muss sich der Anwalt der Versicherung doch einfallen lassen ...

„... Der Senat hält die Berufung für unbegründet. Das Landgericht hat richtig entschieden ...“

Ha! Das Recht triumphiert! Sag ich doch!

Wart mal ab ...

„... die Revision würde er nicht zulassen ...“

Ha! Kleinmann hat letztinstanzlich Recht bekommen! Ich sag Dir doch, das Recht triumphiert – wie sich das gehört!

„... und schlägt den Parteien daher vor, sich bei 50 % der Klagesumme zu vergleichen ...“

Wie war das gerade?

Ich glaube, sie hat gesagt, Kleinmann soll die Hälfte bekommen ...

Aber wieso das denn? Sie hat doch gerade gesagt, von Rechts wegen bekommt er alles? Ich glaub, ich hab einen Hörfehler ...

Max. Der Richter soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinwirken. So steht’s geschrieben in § 278 Absatz 1 der Zivilprozessordnung. In einem andern Paragraphen, aber schon im Reichsgesetzblatt vom 30. Januar 1877.

Ja aber ...

Kein Aber!

Aber sollte denn ein Vergleichsvorschlag nicht irgendwie die Prozessrisiken abbilden?

Wo steht das denn?

Jetzt ist aber gut. Komm mal mit in die Bibliothek ... 5. Etage ... hier haben wir ihn ja: Baumbach, weiland Senatspräsident beim Kammergericht ... Zivilprozessordnung ... OK, 77. Auflage 2019, der ist nun schon ein Weilchen tot, aber er schrieb: „Einigung mit sanfter Gewalt ist die nicht selten fragwürdige Methode ... um die störrischen Parteien zusammenzureden (Heinrich von Kleists Dorfrichter Adam lässt grüßen) ... Alle noch so beschwörenden Gesetzesaufforderungen finden ihre Grenze dort, wo man nur noch um irgendeine äußere Einigung feilscht. Sie bringt in Wahrheit fast das Gegenteil einer gütlichen Beilegung des Streites mit sich, nämlich eine tiefe Unzufriedenheit ... Gerechtigkeitserkenntnis wird durch immer neu erzwungene Schlichtungsversuche keineswegs gefördert ...“ [§ 278 Rn. 7]

Schnickschnack. Der Richter ist unabhängig, das heißt er soll möglichst schnell möglichst viele seiner Akten erledigen ...

Und wo steht bitte das?

In § 1 des Ungeschriebenen Gesetzes, was hast Du denn bitte gedacht?

Also, eh wir uns hier weiter herumstreiten: was ist denn jetzt beim Versicherungssenat rausgekommen?

Mein Bursche hat es mir berichtet: Die Richter haben Kleinmann die Hölle heiß gemacht, was der Bundesgerichtshof alles Fürchterliches mit ihm anstellen wird, wenn er sich nicht sofort vergleicht. Kleinmanns Anwalt hat dann gekämpft wie ein Löwe und die Sache noch von der Hälfte auf zwei Drittel hochtreiben können. Er sagt aber auch, die Versicherungsanwälte hätten sich fast totgelacht, als sie aus dem Saal sind ...

Tja. Wenn der Richter Dir sagt, Du zahlst von Rechts wegen alles, und dann sind’s doch nur zwei Drittel, ist das ja ein ganz guter Schnitt ...

Max. Das Recht ist eine begrenzte Ressource. Auf der Versicherung herumzureiten wäre reine Zeit- also Ressourcenvergeudung gewesen. Also mussten die Richter auf Kleinmann herumhacken. Das ist viel effektiver, verstehst Du? Und auf Effizienz kommt es hier an!

Aber ...

Kein Aber!!

Aber Recht geht doch vor Macht ...

Schnauze! *PAFF*

AUA!!